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Mit einem 6,3 Liter großen V8 wurde der 300 SEL 6.3 im Frühjahr 1968 zur stärksten Luxuslimousine seiner Zeit Foto: Mercedes
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Im Mercedes 300 SEL durch Kalifornien - Mit dem Big Benz auf großer Fahrt

Mit einem 6,3 Liter großen V8 wurde der 300 SEL 6.3 im Frühjahr 1968 zur stärksten Luxuslimousine seiner Zeit. Selbst wenn S-Klasse-Fahrer heute über 250 PS nur milde lächeln, hat der rüstige Rentner seinen Reiz nicht verloren. Erst recht nicht auf einer Traumstrecke wie dem Highway Number One in Kalifornien.

Als die Amerikaner in den späten 1960ern nach ihrer liebsten Luxuslimousine gefragt wurden, war die Antwort nicht Cadillac oder Chevrolet und auch nicht Lincoln und Ford. Es war die lange Mercedes S-Klasse, die ihre Herzen im Sturm erobert hatte. Und zwar vor allem der 300 SEL 6.3. Kein Wunder, schließlich war das, was da im Frühjahr 1968 ohne Vorankündigung und deshalb als große Überraschung auf dem Genfer Salon präsentiert wurde, nicht irgendeine Limousine, sondern die stärkste der Welt. Ausgestattet mit dem V8-Motor aus dem staatstragenden 600er und 250 PS stark, wurde die S-Klasse der Baureihe W109 zum Muscle Car im Smoking und war plötzlich auf Augenhöhe mit Autos wie dem Porsche 911, der Corvette oder dem Jaguar E-Type. Wenn das Jahr 1968 das Jahr der sozialen Revolution war, dann zählt dieser Mercedes ganz bestimmt zu den größten Revoluzzern.

Heute hat zwar schon die schwächste S-Klasse 313 PS, den elektrischen Booster noch nicht mitgerechnet, und bei AMG geht es hinauf bis 802 PS, doch der rüstige Rentner hat seinen Reiz deshalb noch lange nicht verloren. Erst recht nicht in den USA, wo die, nun ja, ein wenig rostanfällige Limousine dem Zahn der Zeit oft besser getrotzt hat als bei uns, und wo zumindest in Kalifornien Oldtimer im Alltag noch viel fester verankert sind. Deshalb steht jetzt mitten in einer geschäftigen Augustwoche ein kaffeebrauner Klassiker am nördlichen Stadtrand von Los Angeles und will zum wichtigsten Oldtimertreffen der Welt nach Pebble Beach überführt werden. Und auch wenn er als einer von kaum mehr als 6.500 gebauten Exemplaren eine Rarität ist, wäre es schade, ihn dafür auf einen Truck zu packen. Wo doch von oben so schön die Sonne scheint und von Westen der Pazifik in schaumigen Wellen an die Küste schlägt.

Also runter vom Laster und rein in die Lederpolster, vorsichtig an der Klimaanlage gedreht und die Nase in den Wind gereckt - und während die Skyline von Downtown Los Angeles im Rückspiegel verschwindet, breitet sich vorne die ultimative Traumlandschaft aller Roadtripper aus. Aber für die Santa Monica Mountains hat man hier erstmal genauso wenig einen Blick wie für den Strand und die Surfer links des Highways. Jeder im Auto ist gefangen von den Kontrasten, die diesen Klassiker ausmachen: Denn einerseits ist der 300 SEL 6.3 eine S-Klasse wie jeder andere ihrer Zeit und mit massive Holzleisten, dem Handbrems-Stock unter dem Armaturenbrett und dem riesig großen, dafür aber spindeldürren Bakelit-Lenkrad davor an Spießigkeit kaum zu überbieten. Und andererseits braucht es nur einen Schatten auf dem Gaspedal, schon brennt die Luft, der Gummi klebt in schwarzen Streifen am Asphalt und das Hemd klatschnass am Rücken. Nicht umsonst war dieses Auto die Basis für die ,,Rote Sau" mit der die Herren Hans Werner Aufrecht und Erhard Melcher bei den 24 Stunden von Spa 1971 den Klassensieg errungen und so das erste Kapitel der Erfolgsgeschichte von AMG geschrieben haben.

Aber die Reise mit der vielleicht souveränsten S-Klasse aller Zeiten hat auch ihren Preis. Damals hat den der Händler kassiert, die zur Markteinführung immerhin rund 40.000 DM verlangt hat - doppelt so viel wie ein Porsche 911 oder eine Standard-S-Klasse mit Sechszylinder kosteten. Doch heute hält nur noch der Tankwart die Hand auf: Als Klassiker für Preise um in der zweiten Hälfte des Fünfstelligen fast noch unterbewertet, gönnt sich der Big Benz schließlich stolze 20 Liter auf 100 Kilometer und bei deutlich mehr als vier Dollar pro Gallone geht das gehörig ins Geld.

Aber Spaß kostet, das war damals so und ist heute nicht anders. Und Spaß macht der braune Riese reichlich. Ruhig und gelassen cruist er über den Pacific Coast Highway und schwingt ganz sanft durch die weiten Kurven. Mit der Ruhe eines Rentners erträgt er Camper & Co. Und wenn es ihm irgendwann doch mal zu bunt wird oder zu behäbig, dann reicht es, mit dem kleinen Zeh zu wippen, und es ist mit der Ruhe vorbei. Aus den Tiefen des Maschinenraums ertönt dann ein dumpfes Grollen, der Vorderwagen bäumt sich ein bisschen auf, der riesige Kühler reckt sich steil in den Wind und die S-Klasse pfeilt vorbei, als wären die letzten 55 Jahre wie im Flug vergangen.

Damals, ausgerechnet in den wilden 68ern, war der 300 SEL so etwas wie ein Muscle Car im Smoking. Zum ersten Mal konnte eine S-Klasse sogar einem Sportwagen Paroli bieten und etwa einen Porsche 911 niederringen. Und zwar, ohne dabei auf dem letzten Loch zu pfeifen. Sondern so stilvoll und souverän, wie sich das für eine Luxuslimousine geziemt. Während Elfer & Co mit zunehmender Drehzahl wild aufbrüllen, erhebt der Big Benz kaum die Stimme und wird einfach nur schneller und immer schneller. Und selbst die Hollywood-Hills sind für ihn da kein Hindernis. Genauso wenig wie die eigenen 1,8 Tonnen stören den großen Schwaben die Steigungen, die sich hier dem freien Verkehrsfluss in den Weg werfen. Und während man bei uns jetzt über enge Kurven und die wenig zielführende Lenkung schimpfen müsste, sind die Straßen hier breit genug, damit jeder seinen Kurs halten kann.

Und trotzdem ist es kein Schaden, dass der Highway Number 1 mal wieder wegen eines Erdrutsches gesperrt ist und die Umleitung ins Hinterland führt. Weil die Cops in Kalifornien auch mit Oldtimern nur eingeschränkt Spaß verstehen, verbieten sich die damals sensationellen 225 km/h hier und heute von selbst. Doch wer an der Ampel in 6,5 Sekunden von 0 auf 100 stürmt oder auf dem breiten Band der sechs Spuren den rechten Fuß mal einen Hauch länger stehen lässt, der kann erahnen, wie der 6.3er zum König der Autobahn wurde und wie sich vor 50 Jahren der Verkehr vor ihm geteilt haben muss, wenn seine riesigen Doppelscheinwerfer in den Rückspiegeln aufgetaucht sind.

Doch weil die Versuchung mit jeder Meile wächst und mit ihr das Risiko der Radarkanonen, schwingt die Strecke bald wieder zurück vom Highway auf die Byways und verliert sich im nirgendwo. Bis die S-Klasse nach bald 800 Kilometern durch den Glutofen des Carmel Valley rollt. Und je näher sie Pebble Beach kommt, desto mehr Klassiker mischen sich im Umfeld des Concours d'Elegance in den Begleittross. Manche sind älter als der 300 SEL und mache stärker, manche tragen mehr Chrom und manche machen mehr Krawall. Aber kaum einer hat so viel Stil und Status wie das Schlachtschiff aus Stuttgart. Der Weg aufs 18. Grün bleibt dem 300 SEL heute aber trotzdem verwehrt. Nicht, weil er des Concours nicht würdig wäre. Sondern weil der Sonntag als Schau-Tag viel zu schade ist. Statt den Wagen einen Tag lang auf dem Rasen zu parken, drehen wir lieber wieder rum und genießen die Rückfahrt nach Los Angeles.

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