Nichts wie weg!

Warum die Unfallflucht ein tief verwurzelter Fluchtreflex ist und weshalb dieser Tatbestand bei Bagatelldelikten entkriminalisiert werden muss.

Warum die Unfallflucht ein tief verwurzelter Fluchtreflex ist und weshalb dieser Tatbestand bei Bagatelldelikten entkriminalisiert werden muss.

Die Zahl macht einen ratlos. Allein in Hamburg registriert die Polizei jeden Tag 50 Autofahrer, die sich nach einem Unfall in Windeseile aus dem Staub machen. Und in ganz Deutschland? Nach einer repräsentativen Forsa-Umfrage vor etwa fünf Jahren räumten bereits 15 Prozent der befragten Deutschen ein, schon einmal durchgestartet zu sein, nachdem sie mit ihrem Fahrzeug ein anderes Auto verkratzt oder leicht beschädigt haben.

15 Prozent - das klingt nach wenig. Bei etwa 56 Millionen deutschen Führerscheinbesitzern (Stand 2017) wären das hochgerechnet aber 8,4 Millionen Fahrer, die sich nach kleinen Remplern schon mal ihrer Verantwortung entzogen haben. Nicht von Pappe ist auch die Zahl der Personenschäden infolge einer Fahrerflucht in Deutschland: Für 2016 zählte das Statistische Bundesamt 26 720 Fälle.

Abhauen! Ganz schnell! Das ist auf deutschen Straßen inzwischen offenbar eine Art Volkssport. Der Fluchtreflex setzt zuverlässig ein, wenn uns etwas passiert. Er steckt tief in uns drin. Ein Überbleibsel aus grauen Vorzeiten der menschlichen Entwicklungsgeschichte. Rasch ein hektischer Blick in die Umgebung. Kein Zeuge zu sehen? Dann nichts wie weg.

Die Reaktion ,,Mich kriegt keiner" ist überraschend weit verbreitet in Deutschland. Nach Schätzungen des Auto Club Europa begehen jedes Jahr mehr als 500 000 Autofahrer nach einem Crash Unfallflucht. Tendenz steigend. Die Anzahl der jährlich eingeleiteten Verfahren liegt bei etwa 250 000. Dabei können die Sanktionen, wenn man erwischt wird, durchaus drakonisch sein: Wer diesem offenbar tief verwurzelten Fluchtreflex folgt und Gas gibt, kann zu einer Geld- oder Freiheitsstrafe (mit Führerscheinentzug) von bis zu drei Jahren verknackt werden. Tatsächlich bestraft werden jedoch nur weniger als zehn Prozent der Täter, etwa 30 000 pro Jahr.

Viele sehen das ,,unerlaubte Entfernen vom Unfallort", wie es juristisch korrekt heißt, als Kavaliersdelikt an. Oder als eine Art verzeihliche Blödheit. Wie in Minden 2011 als ein Pizzafahrer von den lokalen Medien zum dümmsten Fahrerflüchtling Deutschlands erklärt wurde, weil er nach einer Kollision seinen Lieferwagen am Unfallort stehen ließ und zu Fuß flüchtete. Dass die Telefonnummer des Pizzadienstes groß auf dem Lieferwagen stand und er als Fahrer so schnell ermittelt werden konnte, hatte er in seiner Panik außer Acht gelassen. Darüber lachte die Nation.

Doch nach dem Gesetz ist das kein Witz, sondern eine Straftat, denn wo ein Unfall ist, ist auch ein Schaden. Bei einer halben Million Fälle und durchschnittlich 1000 Euro Reparaturkosten jeweils kommt schnell eine halbe Milliarde oder mehr zusammen. Genauere Zahlen gibt es nicht, weil nach Angaben des Gesamtverbandes der deutschen Versicherungswirtschaft bei den Assekuranzen keine Statistiken dazu geführt werden.

Längst ist diese schändliche Art des Verduftens ein alltägliches Delikt. Doch unter dem Begriff Fahrerflucht wird viel zusammengefasst, was von der Auswirkung aber irgendwie nicht zusammen gehört: Für Parkrempler gilt Paragraf 142 des Strafgesetzbuches genauso wie für einen Horrorcrash mit Toten. Womöglich müsste der Gesetzgeber mehr differenzieren. Bei Bagatellschäden, die etwa 90 Prozent ausmachen, hat die Staatsanwaltschaft allerdings einen Ermessenspielraum bis hin zur Einstellung des Verfahrens. Solche Bagatellen würden manche Fachleute gerne gänzlich entkriminalisiert sehen, weil Verursacher von Beulen nicht mit Tätern in einen Topf geworfen werden dürfen, die durch ihr Verhalten Leben zerstört haben. Dann blieben nur noch die schlimmsten Unfälle mit dieser Ursache strafbewehrt.

Einer der wohl schrecklichsten Fälle seit Jahren trug sich am 2. Oktober 2011 im Raum Stade zu. Johannes und Annemaria D. waren an dem warmen Spätsommersonntag in ihrem sieben Jahre alten Ford auf der Bundesstraße 74 unterwegs. Am frühen Nachmittag war dort nicht viel los. Bis nach Hagenah, dem Wohnort des Ehepaares, 86 und 83 Jahre alt, war es noch etwa ein Kilometer. Nach dem Sachverständigengutachten befuhr Johannes D. die schnurgerade Straße mit etwa 90 km/h. Tempo 100 ist dort erlaubt. Gegen 14.40 Uhr wurde der Ford der Eheleute bei Kilometer 10,6 von einem weinroten Audi 80 Avant (Kombi) überholt. Am Steuer saß Fritz F., ein 29-jähriger Kranführer im Hamburger Hafen, der aus Schortens in Friesland stammt. Beim scharfen Wiedereinscheren auf die rechte Spur rammte der Audi offenbar den Ford, so dass Johannes D. die Kontrolle über sein Fahrzeug verlor und rechts gegen einen Baum prallte. Seine Frau Annemaria war sofort tot, er selbst starb wenig später im Krankenhaus.

Fritz F. hielt unmittelbar nach dem Unfall an, lief sogar zurück zum Wrack. Das sagt jedenfalls eine Krankenschwester, die erste Hilfe leisten wollte. Sie berichtete der Polizei, dass der Mann wenige Meter vor ihr zwei- oder dreimal auf und ab gegangen sei, völlig von der Rolle gewirkt habe und schließlich weggefahren sei. Sie konnte sein Gesicht - rund, ovale Brille, Kurzhaarfrisur und Ziegenbärtchen - so präzise beschrieben, dass das vom Polizeizeichner angefertigte Bild schließlich zum Erfolg führte: Ein Arbeitskollege meldete sich bei der Sonderkommission und gab den Ermittlern den passenden Namen. Einige Tage nach dem Unfall wurde Fritz F. gestellt. Den Audi hatte er inzwischen reparieren lassen.

Ob Alkohol im Spiel war und ob er deshalb weitergefahren ist, um seinen Führerschein zu retten, ist unbekannt. Vielleicht fürchtete er die Konsequenzen: Eine Vorstrafe und die finanzielle Belastung, wenn die Autoversicherung einige tausend Euro der entstanden Kosten von ihm wiederhaben will. Bernhard Schlag, inzwischen im Ruhestand befindlicher Ex-Professor für Verkehrswissenschaften an der Technischen Universität Dresden, erklärt mentale Aussetzer wie diesen so: ,,In Notlagen reagiert der Mensch, vereinfacht gesprochen, entweder mit Kampf oder mit Flucht. Das sind Stresssituationen, in denen der Verstand oft in den Hintergrund tritt. Vor allem, wenn noch Panik hinzukommt."

Mindestens genauso schlimm wie der tragische Tod des Ehepaares ist das, was kurz danach passierte: Kaum waren die Ereignisse in der örtlichen Presse mit Namen und Wohnort der Verunglückten geschildert worden, knackten Einbrecher das Eigenheim der beiden. Die Polizei vermutet einen Zusammenhang zwischen der Berichterstattung und dem Einbruch.

Statistisch gesehen passiert einem Autofahrer eine Fahrerflucht nach ADAC-Angaben zwar nur alle zwei Millionen Kilometer. Doch wenn sogar Verursacher von schlimmsten Unfällen wie jenem auf der B 74 das Weite suchen, dann wundert es nicht, dass Täter von vergleichsweise läppischen Kratzern oder Beulen erst recht meinen, einfach abhauen zu können. Unfallflüchtlinge gibt es quer durch alle gesellschaftlichen Schichten. Selbst gute Bildung oder Prominenz schützen zumeist nicht davor, in der für die Fahrerflucht entscheidenden Sekunde wie ein Neandertaler zu handeln. Oft brettern die Leute nur deshalb davon, weil sie andernfalls fürchten müssen, dass ihr Schadenfreiheitsrabatt der Autoversicherung hoch gestuft wird. Ganz vorne in der Skala der Gründe, sich unerkannt aus dem Staub zu machen, stehen jedoch Drogen und Alkohol am Steuer.

Ex-Radrennprofi Jan Ullrich zum Beispiel. 2002 hatte er in einer Mainacht kräftig getankt, ramponierte später mit seinem Porsche in der Freiburger Innenstadt ausgerechnet mehrere Fahrräder - und gab Gas. Ein Zeuge hatte sich jedoch das Kennzeichen notiert. Die Blutprobe ergab 1,4 Promille. Es erging ein Strafbefehl über 70 Tagessätze und er verlor für ein Jahr seinen Führerschein.

Oder der Fall des Böhse-Onkelz-Sängers Kevin Russell. Unter Drogeneinfluss und mit Tempo 232 hat er am Silvesterabend 2009 einen Auffahrunfall auf der Autobahn 66 Wiesbaden-Frankfurt verursacht. Am Steuer seines Supersportwagens Audi R8 donnerte er auf einen Opel Astra - und gab gleich danach mächtig Gas. Der Astra jedoch fing Feuer und die beiden Insassen verletzten sich lebensgefährlich. Im Oktober 2010 wurde Russell zu zwei Jahren und drei Monaten Gefängnis verurteilt.

Sich richtig zu verhalten ist dabei ganz einfach: Immer die Polizei rufen und warten. Für die, die dennoch abdüsen und die hinterher ein schlechtes Gewissen plagt, hält der Gesetzgeber eine Tür auf. Allerdings nur bei Bagatellschäden. Wer sich innerhalb von 24 Stunden bei der Polizei meldet, hat Chancen, eine Strafmilderung zu bekommen. Vorbestraft ist nur, wer ins Gefängnis muss oder eine Geldstrafe von mehr als 90 Tagessätzen seines Einkommens und einen Eintrag ins Führungszeugnis bekommt. Ist die Staatsanwaltschaft der Ansicht, dass die Schadensumme gering ist, kann sie sogar von einer Strafe ganz absehen.

Genau darauf spekulieren manche Verteidiger. Je nach Gerichtsbereich gilt in Deutschland ein Schaden bis etwa 750 Euro als Bagatelle, für die es sich nicht lohnt, ein Verfahren in Gang zu setzen. Ausschlaggebend dafür ist die Reparaturrechnung. Dann wird das Verfahren häufig gegen eine Geldauflage eingestellt. Doch nicht selten gibt es zwei Reparatur-Rechnungen. Eine über die echte Reparatursumme und eine nach unten geschönte für den Staatsanwalt. Denn das Ziel der Trickser ist die Einstellung des Verfahrens. Bei Schäden ab etwa 1000 oder 1200 Euro ist mit Geldstrafen bis zu einem Monatsgehalt, Punkten in Flensburg und einem Fahrverbot zu rechnen.

Um den Strafen entkommen zu können, nehmen Beschuldigte häufig für sich in Anspruch, nichts gehört oder gemerkt zu haben. Zum Beispiel der FDP-Politiker Patrick Döring. Mitte November 2011 demolierte er in der Nähe seines Hauses in Hannover beim Ausparken den Außenspiegel eines anderen Autos. Nach einer Zeugenaussage soll er daraufhin kurz gestoppt, seinen Spiegel gerichtet haben und dann weitergefahren sein. Nach Dörings Erklärung, nichts davon wahrgenommen zu haben, stellte die Staatsanwaltschaft das Verfahren wegen Geringfügigkeit und gegen eine Strafzahlung von 1500 Euro ein. Ein Promi-Bonus? Die Staatsanwaltschaft verwies damals auf den Bagatellcharakter des Vorfalls und auf ihren Ermessensspielraum.

Neuere wissenschaftliche Erkenntnisse geben allerdings Anlass zu der Vermutung, dass die Beschuldigten manchmal tatsächlich nichts gemerkt haben. Jochen Buck, Professor für forensisches Sachverständigenwesen an der Hochschule Nürtingen-Geislingen, sagt: ,,Wenn man nicht jeden Fall individuell untersucht, wie wir das machen, dann ist die Gefahr groß, dass es zu Fehlurteilen kommt." Buck und sein Team stellen solche Unfälle im Auftrag der Gerichte akribisch nach und kommen oft zu ganz anderen Ergebnissen als Gutachter, die nur nach Aktenlage befinden.

Wie in dem Fall eines alten Mannes, der vorgegeben hat, einen Rempler nicht wahrgenommen zu haben, der zum Vorwurf der Fahrerflucht führte. Buck und sein Team haben das fragliche Szenario auf dem Gelände der Autobahnmeisterei Hohenbrunn südöstlich von München nachgestellt. Ein Audi A4 ist mit zwei sensiblen Mikrofonen auf Ohrhöhe an der Fahrerkopfstütze, zwei Beschleunigungssensoren im Beifahrerfußraum für eventuelle Stöße und einer Hochgeschwindigkeitskamera auf der Motorhaube direkt vor dem rechten Außenspiegel präpariert worden. Vor dem Audi stehen zwei weitere Kameras, die jede Phase des Tests aufzeichnen werden. Etwa 30 Meter weiter vorn steht ein älterer Geländewagen, der mit einem zusätzlich montierten Spiegel gleich jenen am Audi rammen wird. Auf ein Zeichen eines Mitarbeiters fährt der ferngesteuerte Jeep los. Tempo 30 liegt an. Wenige Sekunden nach dem Start kracht es, der Spiegel des Audi klappt nach innen und die Verkleidung platzt ab. Außen ist das Geräusch deutlich zu hören. Aber innen? Dort war deutlich weniger wahrzunehmen, wie die Instrumente zeigten. Wer schwerhörig ist, wie in dem nachgestellten Fall ärztlich festgestellt wurde, wird von solchen Kollisionen nichts merken. Ergebnis: Die Staatsanwaltschaft stufte den Fall als Bagatelle ein. Doch zunächst schien es so, als würde der Mann zum Straftäter abgestempelt.

Die Erkenntnis daraus ist, dass es höchste Zeit ist, dass solche Bagatellschäden vom Stigma des Verbrechens befreit werden. (ampnet/hk)

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